Chow Ling Prager ist Psychotherapeutin und Coachin bei WePractice, eine Plattform und ein Zentrum für mentale Gesundheit in Zürich. Seit 2009 begleitet sie Menschen in Belastungssituationen. Sie hat uns bereits erklärt, wie Mental Load Stress erzeugt.
Weshalb ist «Nein» sagen für viele Menschen schwierig?
Weil wir stabile Kontakte suchen, gefallen möchten, gelobt und geliebt werden wollen. Zugehörigkeit ist ein wichtiges menschliches Grundbedürfnis. Aber nicht alle Menschen funktionieren gleich: Die einen sind selbstbewusster, andere brauchen mehr Anerkennung, ecken nicht gerne an und fürchten sich vor Ablehnung. Wir haben auch nicht alle dasselbe Mass an Pflichtgefühl.
Wir haben nicht alle das gleiche Bedürfnis nach Anerkennung und dasselbe Mass an Pflichtgefühl.
Woher kommen diese Unterschiede in der Psyche?
Das hängt stark mit der Sozialisierung und der individuellen Persönlichkeit zusammen. Was wir in der Kindheit erfahren, prägt unser späteres Verhalten. Wer beispielsweise in einem Umfeld aufwächst, wo individuelle Bedürfnisse nicht beachtet werden und eine eigene Meinung nicht gefragt ist, ist später oft zu wenig selbstbewusst, um anderen einen Wunsch abzuschlagen – und nimmt die eigenen Bedürfnisse eher zurück.
Sich abzugrenzen ist auch mit einem gesunden Selbstwertgefühl nicht immer leicht. Warum ist das so?
Bei jeder Bitte müssen wir abwägen. Rasche Antworten finden auf ganz viele Fragen: Bin ich die richtige Person? Kann ich das überhaupt und habe ich die Zeit und Kraft dazu? Falls ja: Will ich es wirklich tun? Welche Folgen hat es, wenn ich Nein sage, und wie gehe ich damit um? Es ist oft schwierig, die eigenen Bedürfnisse voranzustellen – man könnte ja als rücksichtslos oder gar egoistisch wahrgenommen werden.
Sind solche Ängste unbegründet?
Das gilt es herauszufinden. Wer aber innerlich gefestigt ist, lässt sich von diesen Ängsten weniger beeindrucken. Sie sind oft selbst auferlegt und eigentlich irrational, längst nicht jedes Nein wird als negativ bewertet.
Wir sollten also weniger auf die Erwartungen anderer achten?
Wir sollten vor allem unsere Werte kennen und verstehen, welche Erfahrungen uns geprägt haben. Dann können wir besser in uns hineinhören und aus einer Position der Stärke Nein sagen. Und dann sind wir tatsächlich weniger fremdbestimmt.
Was raten Sie Menschen, die sich besser abgrenzen möchten?
Schauen Sie zuerst auf sich selbst, schreiben Sie auf, welche Situationen Ihnen Mühe bereiten – möglicherweise erkennen Sie darin ein Muster. Rufen Sie sich in Erinnerung, dass Ihre psychische Gesundheit leidet, wenn Sie sich nicht abgrenzen – vor allem, wenn Sie bereits am Anschlag sind. Und machen Sie sich bewusst, dass niemand perfekt zu sein braucht.
Wie kann man lernen, klar und direkt Nein zu sagen?
Eigene Grenzen benennen und Bedürfnisse ausdrücken: Das kann man üben. Zum Beispiel in Rollenspielen. Oder unmittelbar in einer alltäglichen, nicht allzu vorbelasteten Situation. Um klar und direkt zu sein, empfehle ich ein respektvolles, aber bestimmtes «Nein, das werde ich nicht tun». In der Regel ist diese kurze Antwort zielführender als jede lange Erklärung.
So sagen Sie souverän Nein: 9 hilfreiche Tipps
Sie haben sich vorgenommen, Anfragen und Aufforderungen öfter abzulehnen? Ein klares NEIN fällt Ihnen jedoch schwer? Diese Tipps helfen Ihnen weiter.
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Glaubenssätze anpassen
Sind Sie der Überzeugung, dass es Ihre Pflicht ist, stets verfügbar zu sein? Ist es nicht! Glauben Sie, dass Sie unersetzbar sind? Sind Sie nicht!
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Aufwand und Ertrag vergleichen
Listen Sie auf, wie viel Zeit Sie damit verbringen, Aufgaben für andere zu übernehmen, und stellen Sie diese dem gegenüber, was Sie zurückerhalten. Wo die Bilanz nicht ausgeglichen ist, können Sie mit gutem Gewissen ein Nein vorsehen.
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Situationen durchspielen
Rufen Sie sich wiederkehrende Situationen in Erinnerung, wo Sie sich anders verhalten möchten. Überlegen Sie, wie Sie das nächste Mal reagieren wollen, wenn Sie «noch schnell» die Zutaten fürs Abendessen einkaufen sollen. Üben Sie Ihre Antwort laut oder in Gedanken ein.
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Bedenkzeit erbitten
Die Aufgabe, ein «kleines Geschenk» für die abtretende Lehrerin zu organisieren, droht an Ihnen hängen zu bleiben. Bitten Sie um kurze Bedenkzeit. Das ist schon die halbe Miete, weil die fragende Person jetzt eher mit einem Nein rechnet.
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Alternative vorschlagen
Indem Sie eine Anfrage nicht bloss zurückweisen, signalisieren Sie, dass Ihnen das Anliegen zwar wichtig ist, Sie sich aber nicht darum kümmern können. Schlagen Sie eine Person vor, die Sie für geeigneter halten, oder nennen Sie einen Zeitpunkt, an dem Sie verfügbar sind.
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Prinzipielles Nein
Suchen Sie nicht nach Ausreden. Auch ausführliche Begründungen sind nicht unbedingt notwendig. Bleiben Sie lieber grundsätzlich: Wenn Sie aus Prinzip nicht bereit sind, für den Tagesausflug das Auto zur Verfügung zu stellen, geht das in Ordnung.
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Standhaft bleiben
Rechnen Sie damit, dass Ihr Nein nicht sofort akzeptiert wird. Nun geht es darum, standhaft zu bleiben und sich nicht überreden zu lassen. Den Anflug des schlechten Gewissens müssen Sie aushalten. Auch diese Situation können Sie üben.
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Geduldig sein
Das Neinsagen lernen ist ein Prozess und benötigt Zeit. Seien sie geduldig mit sich selbst! Und wenn Sie es geschafft haben: Belohnen Sie sich mit einer Kleinigkeit – oder atmen Sie endlich in Ruhe durch.
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Merksätze einprägen
Halten Sie sich an folgende Grundsätze: Ich sage nie Ja, wenn ich Nein meine. Ich entscheide über meine Zeit. Und: Allen Menschen recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann.
Wie Sie Krisen die Stirn bieten
Resiliente Menschen behalten auch in schwierigen Zeiten ihren Lebensmut. Die gute Nachricht für alle, die an Misserfolgen lange zu kauen haben: Nicht nur Nein sagen, auch Resilienz ist erlernbar.
Unser Beitrag für Ihre Gesundheit
Wenn Sie einmal etwas für sich statt für andere machen möchten, unterstützen wir Sie mit bis zu 600 Franken pro Kalenderjahr. Ob ein Kurs zur Stressbewältigung, Fitnessabo oder Yoga-Kurs: Sie wählen aus, wir beteiligen uns.