
Maja Herold ist als Psychologin und Körperpsychotherapeutin IBP unter anderem auf das Thema «Wut und Kraft» spezialisiert. Sie ist in der Gemeinschaftspraxis w3 Zentrum in Winterthur tätig.
Was passiert, wenn wir wütend sind?
Intensiver als Ärger und schwerer zu kontrollieren als Zorn: Wütend tun Menschen oft Dinge, die sie später bereuen. Das starke Gefühl löst im Körper eine Reihe physiologischer Reaktionen aus: Stresshormone wie Adrenalin und Noradrenalin werden freigesetzt, Blutdruck und Puls steigen, die Muskeln spannen sich an, die Atmung wird flach und schnell. Diese Alarmreaktion bereitet uns auf Kampf, Flucht oder Erstarrung vor – ein Mechanismus, der tief in unserem limbischen System verankert ist.
Warum ist Wut in unserer Gesellschaft negativ besetzt?
Grundsätzlich kommt der schlechte Ruf der Wut daher, dass wir in ihr vor allem das Impulsive und Zerstörerische sehen. Auf uns selbst bezogen fürchten wir den Kontrollverlust und die Blamage. Besonders Frauen unterdrücken ihre Wut oft, da sie traditionellen Vorstellungen von Weiblichkeit widerspricht. Generationen von Frauen haben ihre berechtigte Wut unterdrückt. Gerade hier zeigt sich das grosse konstruktive Potenzial der Wutkraft – wie etwa in der Frauenbewegung seit den 1970er Jahren.
Warum machen uns bestimmte Situationen so schnell rasend?
Manche Trigger haben mit emotional nicht verarbeiteten Erlebnissen zu tun, die tiefe Spuren hinterlassen haben, oft schon in der Kindheit. Wenn wir uns nicht ernst genommen oder stets übergangen gefühlt haben, können solche Wunden in Partnerschaften oder mit eigenen Kindern wieder aufbrechen und Wut auslösen. Auch wenn jemand unsere Werte missachtet, können wir das als Angriff auf uns selbst empfinden und reagieren heftig.
Was steckt hinter der Wut?
Hinter dem Gefühl der Wut verbergen sich oft tiefer liegende Gefühle wie Trauer, Angst oder Ohnmacht, auch Stress und Überforderung. Oder Bedürfnisse nach Schutz, nach Anerkennung, nach Gerechtigkeit. Je nachdem, wie wir familiär und gesellschaftlich geprägt wurden, reagieren wir vielleicht mit Tränen oder Scham – und verdrängen die Wut. Es ist wichtig, die Wut zuerstzu akzeptieren und dann zu verstehen, worauf sie uns hinweist.
Hinter dem Gefühl der Wut verbergen sich oft tiefer liegende Gefühle wie Trauer, Angst oder Ohnmacht, auch Stress und Überforderung.
Welche Arten von Wut unterscheiden Sie?
Für mich gibt es die unterdrückte Wut, die unter den Teppich gekehrt wird, die explosive Wut, die unkontrolliert ausbricht, und die «gehaltene Wut». Letztere kann man sich wie einen Hund an der Leine vorstellen: Sie ist präsent und wird bewusst «gehalten». Diese Form der Wut gibt uns die Kraft, für unsere Bedürfnisse einzustehen und klare Grenzen zu setzen – ohne dabei andere zu schädigen.
Wie können wir diese Kraft der Wut im Alltag nutzen?
Wut zeigt uns, dass etwas für uns nicht stimmt. Nutzen wir sie als wertvolle Kraft, die uns Klarheit und Standhaftigkeit gibt. Sie hilft uns selbstbestimmt zu handeln, Missstände anzusprechen und für das einzustehen, was uns wichtig ist – im Alltag, wenn wir Belästigungen im Bus beobachten und mit Zivilcourage handeln. Oder in gesellschaftlichen Zusammenhängen – wenn wir uns politisch engagieren. Machen wir aus dem Wutausbruch einen Mutausbruch!
Machen wir aus dem Wutausbruch einen Mutausbruch!
Was passiert, wenn Wut über längere Zeit unterdrückt wird?
Unterdrückte Wut kann langfristig zu erheblichen gesundheitlichen Belastungen führen. Studien zeigen, dass chronisch unterdrückte Wut das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen und Entzündungsprozesse im Körper auslösen kann. Psychische Folgen können Depressionen oder Angststörungen sein.
Was halten Sie von Rage Rooms, in denen Dinge zerstört werden können, um Dampf abzulassen?
Kurzfristig mag es befreiend wirken, da die körperliche Energie der aufgestauten Wut abgebaut wird, ähnlich wie bei sportlichen Aktivitäten. Langfristig ist es sinnvoller, die eigene impulsive Wut besser kennenzulernen und sich einen vielfältigen Baukasten mit Entspannung und Selbstfürsorge zuzulegen. Bei Überforderung mit der Wut kann eine Therapie helfen, das Gefühl verstehen zu lernen und konstruktiv zu nutzen. Auch alte, stark belastende Trigger können gelöst und eine selbstbewusstere Haltung entwickelt werden.
Die Wut in den Griff bekommen
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Notbremse ziehen
Bei Konflikten, zum Beispiel in der Familie oder mit anderen, das Zimmer verlassen, sich selbst aus der Situation herausnehmen, dann die Wut regulieren.
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Codewort vereinbaren
Um einen Streit sofort zu stoppen, mit der Partnerin oder dem Partner ein Codewort vereinbaren, zum Beispiel wenn Konflikte mit den Kindern eskalieren, sodass der oder die jeweils andere die Situation übernimmt.
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Körperliche Regulierung
Nehmen Sie die Wut im Körper wahr, ohne sie zu bewerten. Durchatmen, um die Anspannung zu senken. Bei Bedarf körperlich abreagieren – aber langfristig Wut kennenlernen und Entspannungsmöglichkeiten einüben.
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Containment üben
Stellen Sie sich vor, Sie halten die Wut an der Leine wie einen Hund – sie ist «gehalten». Versuchen Sie, die Wut auszuhalten, ohne gleich impulsiv zu reagieren.
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Selbstreflexion
Fragen Sie sich, was hinter der Wut steckt. Sind es Gefühle wie Enttäuschung oder Ohnmacht? Versuchen Sie, Ihre Wut zu verstehen.
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Lösungen suchen
Überlegen Sie, wie Sie in ähnlichen Situationen anders handeln können – etwa früher Grenzen setzen oder klarer kommunizieren. Ein Plan hilft, das nächste Mal konstruktiv zu reagieren.
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Missstände ansprechen
Üben Sie, Missstände anzusprechen. Erst kleinere Dinge, dann grössere: Bei der Familienfeier, im öV, am Arbeitsplatz.
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Soziale Unterstützung
«Macht dich das auch so wütend?» Sprechen Sie offen mit anderen über Ihre Wut. Das entlastet, verbindet und zeigt Ihnen, dass Sie nicht allein sind.
