Auticon in Zürich vermittelt Menschen aus dem Autismus-Spektrum als IT-Consultants an Unternehmen, aber auch an Bundesämter. Dass es hier nicht um eine Beschäftigung, sondern um Business geht, vermittelt die lebendige Büroatmosphäre: Tastaturen klappern, Telefone klingeln, Sandwiches werden vor dem nächsten Meeting rasch im Stehen verdrückt.
Hand geben? Lieber vorher fragen
Geschäftsführerin Iris Gallmann stellt uns Matthias vor, der eine halbe Stunde Zeit für uns entbehren kann. Instinktiv strecke ich ihm die Hand entgegen – und lerne gleich meine erste Lektion. «Autisten sollte man besser fragen, ob das Händeschütteln okay ist – nicht jeder mag das», klärt mich Iris Gallmann auf.
Autisten sollte man besser fragen, ob das Händeschütteln okay ist – nicht jeder mag das.
Für Matthias ist es aber kein Problem. Der 30-jährige Informatiker arbeitet derzeit intern bei Auticon und absolviert eine Weiterbildung für ein IT-Zertifikat. Zuvor hat er bei diversen Grosskunden an komplexen Projekten mitgearbeitet. Dabei sass er auch in Grossraumbüros. Als diese während der Pandemie fast leer waren, empfand er das als sehr angenehm. «Ich habe es schon lieber ruhig», sagt er.
Ordnung im Chaos sehen
Reagiert er empfindlich auf Sinnesreize wie Licht, Geräusche oder Gerüche? Es heisst ja oft, Autisten nähmen diese ungefiltert wahr? Ein Seufzer. «Wir sind doch alle ganz verschieden», sagt Matthias. Für ihn sei Autismus keine Einschränkung, sondern einfach eine andere Art zu denken. «Ich verstehe die Dinge anders, ich sehe Details und die Ordnung im Chaos.»
Ich verstehe die Dinge anders, ich sehe Details und die Ordnung im Chaos.
Matthias erhielt die Autismus-Diagnose im Kindesalter. «Das hat meinen Eltern geholfen, besser zu verstehen, wenn ich mich unangepasst verhielt, vielleicht zappelig war oder mich zurückzog.» Seit seiner Jugend hat er viele unterstützende Angebote wahrgenommen, zum Beispiel Smalltalk- oder Kommunikationskurse.
Klare Ansagen statt Smalltalk
Situationen intuitiv zu erfassen oder die Gefühle der Mitmenschen zu erspüren, fällt autistischen Menschen oft schwer. «Ich bin zum Beispiel sehr direkt, vielleicht stosse ich deshalb manche Leute vor den Kopf», sagt Matthias. «Wenn bei der Arbeit ein Problem auftaucht, dann spreche ich es an – und bleibe hartnäckig dran. Ich gehe erst in die Kaffeepause, wenn es gelöst ist.»
Zu Pausen muss er sich zwingen; oft merke er erst kurz vor Feierabend, dass er vollkommen ausgepowert ist. «Eine Schwäche ist vielleicht mein grosser Tatendrang. Wenn mir jemand ein Problem umständlich schildert, bin ich von Anfang an – zack – auf der Suche nach einer Lösung.»
Tatsächlich redet Matthias schnell und temperamentvoll; er lacht häufig und hat kein Problem damit, etwas über sich zu erzählen. Es sei ein Vorurteil, dass alle Autisten unkommunikativ seien und kein Interesse an sozialen Beziehungen hätten. «Ich habe gelernt, das zu geniessen», sagt er. So betreibt er in seiner Freizeit Degenfechten und ist seit drei Jahren Hobbyimker in einem Verein.
Autismus-Diagnose im Erwachsenenalter
Jeder Autist ist anders – das verstehe ich noch besser, als ich nach Matthias Felix kennenlerne. Er streckt mir gleich die Hand entgegen. Der 39-jährige promovierte Neurobiologe hat lange in der Forschung gearbeitet. Seine umfangreichen IT-Kenntnisse hat er sich autodidaktisch angeeignet.
Felix spricht ruhig, überlegt und bedächtig. Seine Autismus-Diagnose erhielt er eher zufällig: erst vor rund vier Jahren, als er sich nach einem mehrmonatigen Forschungsaufenthalt in Südkorea erschöpft fühlte. «Ich habe mir immer sehr viel zugemutet, ständig Überstunden gemacht und oft am Wochenende gearbeitet. Da habe ich gar nicht gemerkt, dass mir vielleicht so etwas wie ein Privatleben fehlt.»
Konzentrationsfähigkeit: noch eine Stärke
Heute wundert er sich, dass vorher niemand – auch er selbst nicht – auf die Idee gekommen ist, dass er auf dem Autismus-Spektrum sein könnte. «Durch die Diagnose haben manche Dinge für mich im Nachhinein mehr Sinn ergeben .» Zum Beispiel, wie sehr er sich in seine wissenschaftliche Arbeit vertieft hat.
Durch die Diagnose haben manche Dinge für mich im Nachhinein mehr Sinn ergeben.
«Ich kann mich lange und intensiv auf eine Fragestellung konzentrieren. Ich bin nie frustriert, sondern bleibe einfach dran, bis ich eine Antwort gefunden habe.» So beschreibt er seine Stärken, die er dem Autismus zuschreibt.
«Ich lerne auch gerne Neues, das ist mir nicht lästig, im Gegenteil.» «Und dabei bist du ein Blitz», sagt Iris Gallmann. «Die Präzision und Schnelligkeit beeindrucken mich immer wieder.»
Bitte keine Sonderbehandlung
Wie sieht es mit Schwächen aus? Privat falle es ihm eher schwer, auf fremde Menschen zuzugehen. «Ich habe nicht so eine Intuition, bei mir läuft vieles mehr über das logische Denken.» Auf jeden Fall hilft es ihm, Kontakte zu knüpfen, wenn das Gegenüber ähnliche Interessen hat: zum Beispiel wie er eine Vorliebe für Science-Fiction-Romane. Die liest er gern – darüber hinaus aber auch viele Sachbücher. Um auf dem Laufenden zu sein, hört er Podcasts zu verschiedensten Themen. Als Ausgleich zu all der Kopfarbeit geht er regelmässig ins Fitnessstudio.
Was wünscht er sich im Arbeitsalltag? «Wir wollen keine Sonderbehandlung und sind keine mühsamen Typen, die schnell beleidigt sind », sagt Felix. «Wir möchten nicht anders behandelt werden als neurotypische Menschen.» Iris Gallmann ergänzt: «Was neurodivergenten Menschen guttut, tut auch allen anderen gut. Alle profitieren, wenn Probleme angstfrei angesprochen werden können und eine offene Feedbackkultur herrscht.»
Wir wollen keine Sonderbehandlung und sind keine mühsamen Typen, die schnell beleidigt sind.
Fakten rund um Autismus
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Was versteht man unter Autismus?
Bei der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) verarbeitet das Gehirn neurobiologisch Informationen anders als bei den meisten Menschen: in Bezug auf die Wahrnehmung, Denkweise und Emotionen. Das prägt auch die soziale Interaktion oder Kommunikation. Die Ausprägungen können stark variieren. Jeder Mensch mit Autismus ist einzigartig.
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Was heisst Neurodiversität oder Neurodivergenz?
Das Konzept der Neurodiversität oder Neurodivergenz erkennt die Vielfalt der menschlichen Gehirne und die Unterschiede in der neurologischen Entwicklung als natürliche und wertvolle Variation an. Es umfasst zum Beispiel: Autismus, ADHS, Dyslexie oder das Tourette-Syndrom und andere.
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Wie viele Menschen sind in der Schweiz auf dem Autismus-Spektrum?
1 bis 2 Prozent der Schweizer Bevölkerung ist Schätzungen zufolge im Autismus-Spektrum, das von hochfunktional bis zu hilfebedürftig reicht. Matthias und Felix, die wir hier in einer Momentaufnahme vorstellen, sind Autisten und beruflich erfolgreich. Viele Menschen auf dem Autismus-Spektrum haben jedoch Schwierigkeiten, eine Anstellung zu finden, was auf soziale und kommunikative Herausforderungen, aber auch auf Vorurteile und mangelndes Verständnis der Arbeitgeber zurückzuführen ist.
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Wie kommuniziere ich mit einer Person mit Autismus?
Direkte und klare Kommunikation ist wichtig. Ironie oder Anspielungen können zu Missverständnissen führen. Bevor Sie Annahmen treffen, Aussagen interpretieren oder persönlich nehmen: Fragen Sie nach – das erleichtert allen den Dialog.
Eine andere Wahrnehmung der Welt
Was heisst schon normal? Wir alle haben unterschiedliche Lebensentwürfe, Werte und Wünsche. Und wie wir die Welt wahrnehmen – auch da ist das Spektrum gross. Die Zürcher Singer-Songwriterin Lea Lu beispielsweise ist Synästhetikerin: Sie nimmt Töne als Farben wahr.