Die 1984 geborene Zürcher Musikerin Lea Lu mit polnisch-algerisch-französischen Wurzeln spielt unter anderem Geige, Gitarre und Klavier, schreibt und textet ihre Lieder selbst. Bislang hat sie vier Alben veröffentlicht, im Frühsommer 2024 erscheint eine neue EP.
Schon als Kind waren die Tasten auf dem Klavier für Lea Lu nicht weiss und schwarz. «Das D war grün, das E orange», erzählt die Zürcher Singer-Songwriterin. Wenn sie als Fünfjährige Melodien improvisierte, sah sie Farbfolgen vor sich – und konnte sich so Melodien merken. «Ich dachte, das machen alle», sagt sie.
Synästhesie ist eine spezielle Wahrnehmung der Sinne
Für sie war es normal, dass Töne und Farben miteinander verschmelzen. Dass sie Synästhetikerin ist, wurde der heute 39-Jährigen erst viel später bewusst, als sie eine Dokumentation zum Thema sah.
Synästhesie ist eine Begabung, keine Krankheit: eine spezielle Wahrnehmungsfähigkeit, bei der meist zwei Sinnesreize miteinander verknüpft werden. Schätzungen zufolge haben rund vier Prozent aller Menschen diese Fähigkeit: Für manche Menschen haben zum Beispiel Zahlen eine Farbe oder Wörter einen Geschmack. Und für Lea Lu hat eben jeder Ton eine bestimmte Farbe.
«Die Farben schwingen in allem mit, was ich höre.»
«Die Farben schwingen in allem mit, was ich höre», sagt sie. Und wenn sie selbst singt? «Da nehme ich mit allen Sinnen etwas wahr, spüre die Atmung, den ganzen Körper, vielleicht auch noch die Gitarre in meinen Händen – aber es gibt immer einen Farbschimmer unter dem Klang.»
Wenn sie Lieder schreibt, sieht sie die Farben deutlicher vor sich. «As-Dur ist immer himbeerrot, F-Dur dunkelgrün, Es-Dur hat ein gedämpftes Orange mit Grauschleier – ob das wohl auf dem Pantone-Fächer zu finden ist?» Und sie erzählt, wie verblüfft sie einmal war, als sie an der Luzerner Jazzschule einen Musiker kennenlernte, der exakt die gleichen Farben wahrnahm wie sie.
Hirnforschung an der Uni Zürich: Synästhesie bestätigt
Um ihre Synästhesie besser zu verstehen, nahm Lea Lu an einer Neurologie-Studie der Universität Zürich teil. Dabei wurden ihr im Labor 40 verschiedene Klänge in zufälliger Reihenfolge vorgespielt – darunter auch klirrende Gläser oder Flugzeuggeräusche. Sie tippte auf einem Farbspektrum jeweils auf die Farbe, die sie hörte.
«Dabei habe ich konsequent immer genau die gleichen Farben bei den gleichen Tönen genannt. Das war für mich der Beweis, dass meine synästhetische Wahrnehmung real ist und nicht nur in meiner Vorstellung existiert.»
Hörsturz: Da waren die Farben weg
Als die Sängerin in Folge eines Hörsturzes einige Monate lang zu etwa 80 Prozent ertaubt war, verschwanden auch viele Farben. Diese Erfahrung prägte ihr Album «2». Ein Lied daraus trägt den Titel «I want my colors back», worin sie schreibt, dass sie müde ist von all dem Schwarz.
Zum Glück sind die Farben zurück. So sind in den letzten Jahren viele neue Songs entstanden, häufig inspiriert durch Reisen (Indien liebt sie sehr!) und in Zusammenarbeit mit Musikschaffenden aus aller Welt.
Inspiration in New York
«Als ich mit einem Auslandsstipendium ein halbes Jahr in New York war, habe ich einen fantastischen Trompeter in einem winzigen Club gehört und spontan gefragt, ob er auf meinem Lied ‹Sun› spielen würde – und er sagte zu. Später googelte ich ihn und stellte fest, dass er auch für Grössen wie Paul Simon oder Taylor Swift spielt.» Inzwischen hat sie mit CARM – unter diesem Namen tritt er auf – schon gemeinsam Konzerte bestritten.
«Bei allem, was ich tue, sind für mich die Begegnungen mit Menschen das Kostbarste.»
«Bei allem, was ich tue, sind für mich die Begegnungen mit Menschen das Kostbarste. Ohne grosse Planung entsteht so ein Netzwerk. Das Leben entwickelt sich aus diesen Momenten ganz natürlich weiter und mit ihm meine Musik.»
Musik wie ein Regenbogen
In diesem Jahr sind Konzerte in London und Paris geplant; im Frühsommer erscheint die EP «Sun». Den Titelsong kann man jetzt schon online hören. Lea Lus kraftvoll-klare und zugleich melancholische Stimme verschmilzt darin mit den sphärischen Klängen der Trompete. Am besten beim Hören die Augen schliessen – und die wunderschöne Musik wie einen Regenbogen vor sich sehen. Das gelingt auch ohne Synästhesie.
Fakten rund um Synästhesie
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Was ist Synästhesie?
Synästhesie ist eine neurologische Besonderheit der Kognition. Das Gehirn verknüpft dabei verschiedene Sinnesreize miteinander, zum Beispiel die Sinne Hören und Sehen. Diese Doppelwahrnehmung entsteht automatisch, zuverlässig und gleichbleibend. Gewollte oder gelernte Assoziationen sind nicht gemeint.
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Welche Arten von Synästhesie gibt es?
Laut dem Neurologen Richard Cytowic soll es über 150 Arten von Synästhesien geben. Ein Beispiel ist die Ton-Farb-Synästhesie wie bei Lea Lu. Auch Buchstaben oder Zahlen können mit Farben verknüpft werden (Graphem-Farb-Synästhesie). Bei der lexikal-gustatorischen Synästhesie haben Wörter einen Geschmack.
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Wie viele Menschen haben Synästhesie?
Die Neurowissenschaften geht davon aus, dass rund 4 % der Bevölkerung eine Synästhesie haben. Auffällig viele Musikschaffende sollen darunter sein: zum Beispiel Lady Gaga, Stevie Wonder oder Pharrell Williams.
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Gibt es Tests zur Feststellung von Synästhesie?
Ja, es gibt eine Reihe verschiedener Tests und Fragebögen, mit denen sich feststellen lässt, ob man eine Synästhesie hat. Mehr Informationen finden Sie beispielsweise auf www.synaesthesie.org.
Sinne ganz besonders wahrnehmen
Wer eine Synästhesie hat, geht oft zunächst davon aus, dass alle anderen die gleiche Wahrnehmung haben. Ähnlich ist es mit hochsensitiven – oder hochsensiblen – Menschen. Auch Coach Jürg Bolliger wusste lange nicht, dass er von der Umgebung überdurchschnittlich viel mitbekommt.