Zwischen Digitalisierung und Alltag haben wir vergessen und verlernt, unsere Sinne bewusst und richtig zu nutzen. Wann haben Sie das letzte Mal an einem Apfel gerochen? Oder einen Ort ohne Navi gefunden und sind barfuss herumspaziert? Versuchen Sie es mal wieder! Denn aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass eine bewusste Sinneswahrnehmung die körperliche und psychische Gesundheit positiv beeinflusst.
Die klassischen 5 Sinne
Bereits Aristoteles unterschied die klassischen fünf Sinne: das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Die Forschung kennt heute mindesten fünf weitere, die weniger bekannt sind: der Gleichgewichts-, Temperatur- und Schmerzsinn, die Wahrnehmung des eigenen Körpers und der inneren Organe.
All diese Sinne sind Meister im Teamwork. Fällt einer aus, übernimmt ein anderer. Andererseits steigern sie erst im multisensorischen Zusammenspiel unser Erleben und Wohlbefinden.
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Sehen – achtsamer Umgang
Die meisten Sinneseindrücke erreichen uns über die Augen. Entsprechend wichtig ist das Sehen für uns. Wir erkennen Bilder, kommunizieren mit den Augen und sammeln Licht mit ihnen. Der Sehsinn ist direkt mit unserer Psyche verknüpft: Ästhetisch ansprechende Dinge wie schöne Umgebungen, Kunst oder Natur stimulieren uns visuell und rufen positive Emotionen hervor. Dauerhaftes Starren auf Bildschirme kann unser Sehvermögen und sogar die psychische Gesundheit beeinträchtigen.
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Hören – Klänge berühren uns
Mit den Ohren orientieren wir uns und empfangen Informationen. Kein anderer Sinn löst so unmittelbar starke Emotionen aus wie das Hören: Musik berührt uns tief im Innersten und kann uns mit Gefühlen geradezu überfluten. Ruhige Klänge, auch in der Natur, können Stress abbauen und die Stimmung verbessern.
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Riechen – verknüpft mit Gefühlen
Der Geruchssinn ist der komplexeste chemische Sinn. Bereits Neugeborene erkennen ihre Mutter am Geruch. Auch bei der Partnerwahl verlassen wir uns darauf, ob wir uns «riechen» können. Gerüche gelten als Schlüssel zum Gedächtnis, sie werden mit unseren Gefühlen im limbischen System des Gehirns abgespeichert. Angenehme Düfte können im Alltag unser Wohlgefühl fördern.
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Schmecken – Geniessen macht glücklich
Die Geschmäcker süss, sauer, salzig und bitter kennen wir alle. Die Geschmacksqualitäten umami (herzhaft-fleischig) und fettig sind weniger bekannt. Achtzig Prozent dessen, was wir als Schmecken bezeichnen, ist eigentlich Riechen: Aromen werden von den Rezeptoren in der Nase wahrgenommen. Von allen Sinnen bereiten uns das Schmecken und Riechen den meisten Genuss.
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Tasten – Berührung stärkt uns
Die Haut ist unser grösstes und unentbehrlichstes Sinnesorgan. Taktile Erfahrungen – über ein Fell oder kühlen Marmor zu streichen, Ton zu kneten oder Sand durch die Hände rieseln zu lassen – wirken beruhigend. Berührungen sind lebenswichtig, um uns selbst zu spüren und eine tiefe Verbundenheit mit anderen Menschen zu empfinden.
Wie können wir achtsam mit unseren Sinnen umgehen, Chow Ling Prager?
Chow Ling Prager ist Psychotherapeutin und Coachin bei WePractice, eine Plattform und ein Zentrum für mentale Gesundheit in Zürich. Sie hat uns bereits erklärt, wie Mental Load Stress erzeugt und wie wir selbstbewusst Nein sagen.
Wie sind unsere Sinne mit unserem Wohlbefinden verknüpft?
Angenehme Eindrücke, der Duft von Blumen, der Anblick eines geliebten Menschen oder beruhigende Musik können gute Gefühle auslösen. Und das ganz unbewusst über Areale im Gehirn, die Sinnesreize emotional bewerten. Umgekehrt können unangenehme Sinneseindrücke wie Lärm oder schlechte Gerüche Stress verursachen und sich negativ auf unser Wohlbefinden auswirken. Wie uns Sinnesreize beeinflussen, ist sehr individuell und hängt von persönlichen Erfahrungen, Kultur und Kontext ab.
Sollten wir besonders achtsam mit unseren Sinnen umgehen?
Ja! Denn es hilft, Stress zu reduzieren und positive Emotionen zu verstärken.
Warum sind wir in unserer Wahrnehmung so stark auf den Sehsinn fokussiert?
Die digitale Technologie betont das Visuelle: Die meisten Informationen, die wir täglich erhalten und austauschen, erreichen uns über die Augen. Somit ist der Sehsinn in der heutigen Welt ausgesprochen wichtig. Der Verlust dieser Fähigkeit wird deshalb auch als einschneidend und belastend erlebt.
Wie beeinflusst uns die dauerhafte Bildschirmnutzung?
Sie kann für die Augen belastend sein und uns müde machen. Sie beeinflusst unsere sozialen Interaktionen – und bringt vor dem Zubettgehen unseren Schlaf-Wach-Rhythmus durcheinander. Deshalb ist es wichtig, bewusst Pausen einzulegen und die Bildschirmzeit zu begrenzen.
Arbeiten Sie in Ihrer Therapie mit den Sinnen?
Ja, ich arbeite häufig mit Achtsamkeitsübungen, die die Sinne miteinbeziehen. So starte ich Sitzungen, indem wir bewusst die Umgebung über den Seh- und Hörsinn wahrnehmen und die Aufmerksamkeit nach innen richten: auf die Atmung, das eigene Befinden und bestehende Bedürfnisse. Oft gebe ich auch Achtsamkeitsübungen für den Alltag mit.
Wie können wir Sinneswahrnehmungen zur Stressbewältigung nutzen?
Durch Achtsamkeit lässt sich viel erreichen: Untersuchungen haben zum Beispiel gezeigt, dass regelmässige Meditation die Gehirnstruktur, insbesondere das sogenannte Stirnhirn verändert, das wichtig für die emotionale Selbstregulation ist. So kann Meditation den Umgang mit Stress deutlich verbessern.
Wie können wir im Alter eine gute sensorische Wahrnehmung aufrechterhalten?
Es ist wichtig, die Sinne bewusst und aktiv zu nutzen – und sie zu schützen: die Augen vor intensiver Sonneneinstrahlung, das Gehör vor lauten Geräuschen. Regelmässige Vorsorgeuntersuchungen sind auf jeden Fall empfehlenswert. Andere präventive Massnahmen sind eine ausgewogene Ernährung, ausreichend Bewegung und Schlaf, der Verzicht auf das Rauchen und den übermässigen Konsum schädlicher Substanzen wie zum Beispiel Alkohol.
9 Tipps: So aktivieren Sie Ihre Sinne
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Intensives Schnuppern
Riechen Sie an Lebensmitteln, bevor Sie kochen – oder am Cremetopf und Shampoo. Nutzen Sie Düfte gezielt, Lavendel zum Einschlafen, Rosmarin für konzentriertes Arbeiten. Krisen-Tipp: Der Duft von Apple Crumble soll Streit schlichten und holt selbst Teenager an den Küchentisch zurück.
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Schmecken versus Riechen
Mischen Sie Zimt und Zucker. Halten Sie sich die Nase zu und nehmen einen halben Teelöffel in den Mund: Es schmeckt süss. Öffnen Sie die Nase. Jetzt erst kommt das Zimtaroma hervor. Dasselbe mit Kräutern: Ist die Nase zu, schmecken Petersilie und Koriander gleich, ist sie offen: unterschiedlich.
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Den Augen Pausen gönnen
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Meditatives Lauschen
Schliessen Sie die Augen und achten Sie bewusst auf jedes Geräusch. Was hören Sie nebenan, was draussen? Wie hört sich Ihr Inneres an? Lauschen Sie Ihrem Atem und tun Sie sonst – nichts. Sie werden staunen, was Sie wahrnehmen und vorher nicht bemerkt haben.
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Zwischenmenschlich hinhören
Hören bedeutet auch hinhören. Studien haben gezeigt, dass wir die Nuancen und Emotionen des Gesagten besser in der Stimme eines Menschen als an der Mimik erkennen. Der Hörsinn ist hier dem Sehsinn überlegen – obwohl wir es anders einschätzen.
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Füsse können auch tasten
Mit den Fingern erkennen wir Dinge, die wir anfassen, innerhalb von Sekunden. Probieren Sie es mit den Füssen. Sie werden überrascht sein, wie gut Ihre Füsse spüren können.
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Weiches Sitzen hilft diskutieren
Ein Tipp für Sitzungszimmer – oder den Familientisch: Mit einem weich gebetteten Hinterteil beharrt man weniger auf seinem Standpunkt und ist verhandlungsbereiter als mit einer harten Unterlage.
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Aromatherapie mit ätherischen Ölen
Die positive Wirkung von Aromen auf das Gemüt ist seit dem Altertum bekannt. Düfte können starke Gefühle und Erinnerungen auslösen. Aromatherapie nutzt dies, um die Stimmung aufzuhellen, den Geist zu beruhigen und Stress abzubauen.
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Mit allen Sinnen geniessen
Quellen:
- «Die Magie unserer Sinne» von Dr. med. Ragnhild und Jan Schweitzer
- «Unsere 7 Sinne – die Schlüssel zur Psyche» von Rüdiger Braun
Naturklänge für innere Ruhe
Hinhören und entspannen: Naturgeräusche wirken sich wohltuend auf unsere psychische Gesundheit aus. Der Neurowissenschaftler Prof. Dr. Lutz Jäncke erklärt, warum wir mit allen Sinnen die Natur geniessen sollten – und wieso auch die Entspannungsmusik aus dem Kopfhörer guttut.